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Im Herzen des Waldes - Textauszug
Nun", sagte die Frau, "dein Herz ist nicht richtig geheilt, als es das letzte Mal gebrochen ist. Daher werden wir es noch einmal brechen und es geraderücken, damit es diesmal richtig verheilt. Das Tal lag schon im Schatten. Die untergehende Sonne berührte die fernen Berggipfel mit purpurroten Strahlen, die dadurch scheinbar von innen erglühten. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich durch das Tal und verlor sich in den aufsteigenden Nebelschwaden der Dämmerung. Die Berge im Norden waren kahl und öde; dort hatte ein Flammenmeer gewütet und allen Baumwuchs zerstîrt. Im Süden dehnten sich grüne, mit Buschwerk und Bäumen bedeckte Hügel aus, so weit das Auge sehen konnte. Die Berge wirkten seltsam nahe und unwirklich. Nach dem heißen Tag verströmten über und über mit Blütenrispen bedeckte Fliederbäume ihren betörenden Duft, der sich mit dem Geruch sonnenerwärmter Erde vermischte. Eichhörnchen und andere Nagetiere huschten ohne Scheu über den Pfad; eine Eidechse schlängelte sich eilig davon und verschwand raschelnd im dürren Gras. Nach und nach verstummten die letzten Vogelstimmen und die Stille des Abends senkte sich über das Land. Das ist die Zeit, wo die Erde ihren Frieden ausatmet und diesen Frieden jenen schenkt, die ihr Herz ihm öffnen. Daniel zog sanft den Atem durch die Nase ein, um diese besondere Stimmung ganz in sich aufzunehmen. Seit der Mittagszeit war er unterwegs, seine Beine waren müde, und die Füße begannen zu schmerzen. Er schaute sich nach einer geeigneten Stelle um, an der er rasten konnte. Sein Blick fiel auf eine mächtige alte Weide, die ihn augenblicklich in ihren Bann zog; der Baum schien eine ihm ganz und gar eigene Lebendigkeit auszustrahlen. Ehrfurcht erfaßte ihn beim Anblick seiner Urwüchsigkeit und Würde. Wie ein kurzer Blitz tauchte der Gedanke auf, nicht zufällig diesen Weg gegangen zu sein; mit einem Achselzucken wies er ihn von sich. Er trat durch die bis zum Boden herabhängenden Äste und Zweige in einen schattigen geheimnisvollen Raum; milchigweißes Licht fiel durch eine Mauer aus grünen Blättern, tiefgrünes Moos hatte sich wie ein natürlicher Teppich um den Stamm gebettet. Dieser Ort war von der Außenwelt gänzlich abgeschlossen. Sofort zog er Schuhe und Strümpfe aus. Herrlich erfrischend streichelte das kühle Moos seine nackten heißen Fußsohlen. Gemütlich lehnte er sich mit Rücken und Kopf gegen die rauhe Borke des Stammes, und eine wohlige Müdigkeit erfaßte seinen Körper. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge, die er nur noch wie durch einen Schleier wahrnahm. Sekunden später tauchte er in die Welt seiner Träume, in die Welt der Grenzenlosigkeit, ein.
Einige Zeit lang schwebte er in einer samtenen, warmen Dunkelheit, in der er sich geborgen und glücklich fühlte. Langsam, aber unaufhaltsam wandelte sich sein Glücksgefühl in eine unerklärliche Sehnsucht nach wirklicher Erkenntnis. Er fühlte die Schwere seines Körpers nicht mehr; nur noch sehr schwach erinnerte er sich daran, wie an etwas aus einer anderen Welt. Trotz dieser körperlichen Freiheit fühlte er sich belastet und eingeengt. Genau in dem Augenblick, als er sich zu fragen begann, was eigentlich geschah, zerbrach etwas in ihm; so wie die Schale eines Samenkorns aufbricht, um einen Baum hervorzubringen. Anfangs zögernd, doch schließlich voll ungestümer Kraft schuf er aus der Tiefe seines Traums eine neue Welt. Es war ein ergreifendes Gefühl von ungehindert fließender Kreativität, und alle Beklemmung fiel von ihm ab. Die Welt um ihn herum begann zu funkeln und zu glitzern; überall knisterte es, und ein Ton, als würden übergroße Seifenblasen zerplatzen, erfüllte die Luft. Ein sanftes Licht erglühte, und Hunderte, ja Tausende von Pflanzen schoßen aus dem Boden. Alles, was er sich vorstellte und wünschte, wuchs augenblicklich vor seinen Augen und entfaltete in Sekundenschnelle seine volle Blütenpracht: Sonnenauge, rosafarbene Malven, Rosen in dunklem Rot, Fackellilien und zarte Glockenblumen, eine Mahonia mit goldgelben Blütentrauben sproß in die Höhe, und allenthalben wuchsen Magnolienbäume aus der Erde und erfüllten die Welt mit ihrem rosaweißen Blütenmeer. Seine Phantasie war unerschöpflich im Hervorbringen ständig neuer Farben und Formen. Er spürte sein Herz vor Aufregung klopfen, während er seine Traumwelt gestaltete. Staunend sah er dem wunderbaren Schauspiel zu; eine leuchtende, farbenfrohe Welt entstand aus seinem tiefsten Innern. Da wuchsen Baumstämme in allen Farben von Smaragdgrün, über Rubinrot bis Silbergrau. Felsformationen brachen durch die Erdkruste, und Wasserfälle begannen zu rauschen; nebelhafte Wasserfontänen wirbelten durch die Luft, benetzten die Blätter der Bäume und Pflanzen, formten sich um zu Wassertropfen und fielen als glitzernde Diamanten auf die Erde herab. Kaum daß die Tropfen den Boden berührten, sprühten auch schon neue Pflanzen hervor. Mannshoher Blumenlauch wetteiferte mit Palmlilien und Königsfarn, gewaltiger Rittersporn im klaren Eisblau wurde umrankt von den mondweißen Blüten einer Passayarose. Einige Blüten sahen aus wie große Teller, von deren Rand unzählige leuchtende Fäden in Feuerrot und Gold zum Boden hinabfielen, andere wie rautenförmige Kreisel, die das Licht in sich aufzunehmen schienen und so einem geschliffenen Kristall glichen. Cannas und Funkien schossen baumhoch empor und verdeckten mit ihren breiten Blättern den Himmel. Sein eigenes Reich sprengte alle ihm bis dahin vertrauten Maßstäbe. Er wußte, daß er träumte, und wußte, daß er sich seinen eigenen Traum kreierte, und doch_- je länger er träumte, um so deutlicher wurde das Gefühl, daß ihm sein Traum aus der Hand genommen wurde, daß sich sein Traum selbstständig machte. Er lief zwischen Felsen hindurch, immer aufs neue erstaunt über die wechselnden Farben. Allenthalben überwucherten Schlingpflanzen das Gestein in kunstvollen Mustern, und es gab kristallklare Teiche, an denen dornige Sträucher mit orangefarbig leuchtenden Blüten wuchsen. Im dichten Schilf nisteten unzählige bunte Vögel. Die ausladenden Bäume waren von Blumenranken übersät, Moos- und Flechtenmassen hingen schwer von den Ästen herab, und die Luft war vom schrillen Summen der Insekten und dem Gezwitscher der Vögel erfüllt. Teilweise waren die Bäume Riesen von gewaltigem Umfang, ihre Wurzeln barsten aus dem Erdreich empor und wanden sich wie Schlangen zum Wasser hin. Er schwebte durch einen wilden wunderschönen Garten. Plötzlich, wie auf einen Knopfdruck hin, löste sich die wabernde, flirrende Blütenpracht, auf und er verlor die Kontrolle über seinen Traum. Statt weichen humosigen Bodens, spürte er heißen, trockenen Sand unter seinen Füßen und nichts war zu hören außer dem Pfeifen eines starken, feindseligen Windes, der ihm den Sand ins Gesicht peitschte. Er bedeckte die Augen und drehte sich im Kreis. Ringsherum gab es nichts als hohe Dünen, über deren Kämme unaufhörlich der Sturm wirbelte. Wie aus dem Nichts stand im nächsten Moment ein mannshoher Kristallspiegel vor ihm; sein silberner Rahmen funkelte im Sonnenlicht. In seiner Mitte sah er eine buntgekleidete Gestalt, die in tänzerischer Haltung auf einer Berghöhe direkt vor einem Abgrund stand. Eine mysteriöse Kraft zog ihn zum Spiegel und in ihn hinein. Schlagartig löste sich das Bild auf, und er erstarrte mit offenem Mund. Neben ihm sprudelte ein Bach, der über moosbewachsene Kiesel plätscherte und zwischen zwei riesigen Felsplatten in die Erde verschwand. Er befand sich auf einer Berghöhe nicht weit unterhalb des Gipfels, konnte aber nicht sagen, ob es dieselbe war, die er im Spiegel gesehen hatte. Der abrupte Wandel der Ereignisse verwirrte ihn, benommen drehte er sich um. Vom Fuß des Berges bis zum Horizont erstreckte sich eine endlose Steppe, klar und deutlich zeichnete sich in geringer Entfernung eine Ansammlung primitiver Holzhäuser gegen das eintönige Grün des Grases ab. Einen Augenaufschlag später stand er am Rand des kleinen Dorfes und wurde Zeuge eines Trauerzuges, der sich über die Hauptstraße bewegte. Zwei schwarze Hengste waren vor einen alten, klapprigen Karren gespannt worden, auf dem ein aus dunkler Eiche gezimmerter Sarg stand. Die Menschen trugen bis auf den Boden herabfallende, schwarze Umhänge, hielten ihre Köpfe zur Erde geneigt und hatten die Hände zum Gebet gefaltet. Unaufhörlich murmelten sie in einem rhythmischen Singsang, der von Trommeln und Flöten begleitet wurde. Aus dem Hintergrund tauchte eine Gestalt auf, die ganz in Weiß gekleidet war. Auf dem Kopf trug sie eine merkwürdige Kappe, an den Armen breite Schwingen und am Hinterteil Schwanzfedern wie ein Hahn. Behende sprang sie auf den Sarg, hüpfte und tanzte wie wahnsinnig, stieß gurgelnde Laute aus und hielt sich vor Lachen den Bauch. Die Szenerie bedrückte Daniel zutiefst. Hier wurde die Ehre eines Toten mit Füßen getreten, und niemanden außer ihn, schien das zu berühren. Etwas abseits auf einer Bank entdeckte er eine alte Frau, die ihre Ellenbogen auf die Knie gestützt hatte und deren Kopf wie eine schwere Bürde in ihren Händen lag. Er ging zu ihr und berührte sie sacht an der Schulter, um sie zu fragen, wo er hier sei und was das alles zu bedeuten habe. Im nächsten Augenblick riß sie sich die Haare vom Kopf und er starrte entsetzt in das zahnlose Gesicht eines alten glatzköpfigen Mannes. "Es sind die festen Gewohnheiten, die uns umbringen", donnerte er ihn an, "und unsere selbstauferlegten Tugenden sind es, die uns als Maske dienen, um unser wahres Gesicht zu verbergen." Dann löste er sich auf und war verschwunden. Schockiert taumelte Daniel mehrere Schritte zurück. Doch die Ereignisse ließen ihm keine Zeit zur Besinnung. Die weiße Gestalt war unterdessen vom Sarg gesprungen und mischte sich unter die Trauernden. Ihr Verhalten stand in krassem Gegensatz zu allem, was man ihn an Ethik und Moral gelehrt hatte. Manchmal hob sie den Kopf eines Menschen hoch, wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und lachte überschwenglich. Alle ließen sie es sich gefallen, ohne die Stimme zum Widerspruch zu erheben. Er war entrüstet über das Verhalten dieser absurden, irrwitzigen Figur, und unbändiger Zorn begann in ihm aufzusteigen. Fortwährend zog sie Fratzen, gab rülpsende Geräusche von sich, schlug Purzelbäume, sabberte und spuckte; es war einfach gräßlich. Zur Krönung ihres widerwärtigen Schauspiels stellte sie sich in die Mitte des Dorfplatzes und urinierte in hohem Bogen, wobei sie sich auch noch im Kreis drehte. Seine Wut über dieses lästerliche Verhalten steigerte sich bis zur Raserei. Er rannte auf die Gestalt zu, um sie für ihr unverschämtes Tun zu bestrafen, doch jedesmal wenn er sie endlich zu haben glaubte, zerrann sie ihm wie Nebel zwischen den Fingern. Sie trieb ihr Spiel mit ihm. Mal tauchte ihr Gesicht unvermittelt vor seinem auf, und sie streckte ihm die Zunge raus, mal stand sie weit entfernt, winkte ihm zu und grinste hämisch. Was er auch anstellte, er bekam sie nicht zu fassen; statt dessen erlebte er einen Tobsuchtsanfall und schlug wild mit den Fäusten auf die Erde. Die Gestalt kniete einige Meter entfernt und äffte ihn lachend nach. Seine Stimmung wandelte sich zu schierer Verzweiflung. Er wünschte dieser Gestalt aus ganzem Herzen den Tod. Mit letzter Kraft schnellte er hoch und stürzte sich auf sie; alles, was er erntete, waren ein harter Sturz auf den Boden und schadenfrohes johlendes Gelächter. Er fühlte sich bis ins Mark verletzt, und dann setzte jegliches vernünftige Denken aus. Er benahm sich selbst wie ein Wahnsinniger, brüllte und tobte, bis ihm der Schaum vorm Mund stand. Währenddessen zog der Trauerzug schweigend an ihnen vorbei, so als seien sie gar nicht vorhanden. "Unlebendigkeit hat seine Ursache vor allem in Angst und unterdrücktem Kummer", sagte die Gestalt, plötzlich direkt vor ihm stehend. Ihr Gesicht strahlte tiefe Ernsthaftigkeit aus, und in ihrer rechten Hand hielt sie einen Stab, mit dem sie gewichtig auf die Erde schlug, als wolle sie damit ihren Worten Nachdruck verleihen. Er spürte nichts als Leere und Schmerzen. Eine unsichtbare Mauer lag wie ein Ring um seine Brust. "Egal was dir auf deinem Weg begegnet, mein zorniger Freund", fuhr sie fort, "vergiß niemals deinen Humor, und urteile nicht vorschnell, denn manchmal trügt der Schein, und das, was deine Augen sehen, ist nicht das, was wirklich ist. Auf dem Weg sein heißt wachsam sein." Für einen kurzen Moment verspürte Daniel Haß. Haß, der aus dem Gefühl der Verzweiflung und der Hilflosigkeit geboren wurde, Haß auf die Gestalt vor ihm, der er die Schuld an seiner Lage gab. "Ich bin nicht dein Freund", schrie er in ohnmächtiger Wut, "du quälst mich und machst dich über mich lustig, treibst dein Spiel mit mir und hältst mich zum Narren. So jemand wie du, kann nicht mein Freund sein. Was soll überhaupt das Gerede von irgendeinem Weg. Ich weiß nichts von einem Weg. Ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin und warum ich hier bin. Geh und laß mich in Ruhe", murmelte er verbittert. "Jetzt hör mit mal gut zu", antwortete die Gestalt laut. "Wir beide gehören untrennbar zueinander, ob es dir gefallen mag oder nicht. Solltest du dich weigern, dies anzuerkennen, wird es dir übel ergehen. Nein, du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dir nichts tun, das wirst du schon ganz allein besorgen mit deiner Ignoranz und Arroganz. Ich sehe, du verstehst mich nicht, aber das ist unwichtig im Augenblick. Wichtig ist lediglich, daß du einsiehst und begreifst, daß du nichts weißt, absolut nichts. Daß du bis heute nicht weißt, daß es so etwas wie einen Lebensweg gibt, den du lernen kannst mitzugestalten, anstatt dich hilflos deinem sogenannten Schicksal auszuliefern. Jawohl, ich bin der Narr, mein Freund. Du meinst, mit deinen moralischen Grundsätzen weit über mir zu stehen, und doch bist du in Wirklichkeit nur ein armer Tropf. Solltest du aber bereit sein, dir einmal einen derben Tritt in den Hintern geben zu lassen, um endlich aufzuwachen und anzuerkennen, daß es noch eine Menge für dich zu lernen gibt, besteht noch Hoffnung für dich." Er trat einen Schritt näher und sah ihn aus blitzenden Augen an. "Sieh her, mein Freund. Ich bin es, der Possenreißer, der Spiegel deiner Seele, der, welcher die festgesetzte Ordnung zum Einsturz bringt, wenn sie sich totgelaufen hat, und der, welcher alle Möglichkeiten in sich trägt. Ich biete dir grandiose schöpferische Ideen und neue Vitalität, wenn du bereit bist, mich anzuerkennen. Hol deinen Kopf aus den Wolken, und sieh der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht." Dann rückte er mit seinen Lippen nahe an sein Gesicht und flüsterte: "Mein Wesen steht für den Kreis, für die natürliche Ganzheit des Menschen. Ich bin in deinem Atem und in deinem Blutstrom, auf jedem Zoll deines Weges begleite ich dich. Du kannst mich nicht zerstören. Mein Kern ist unteilbar und unsterblich, man kann mich nicht in ein Raster sperren, da ich im Fluß des Lebens wohne. Ich stehe für das Nichts, aus dem alles geboren wird, und doch ist in mir gleichzeitig alles enthalten, was existiert." Abrupt drehte er sich um und begann im Kreis zu tanzen, sein Gewand schillerte in allen Farben, und Daniel wurde schwindelig und übel vom Zusehen. Unvermittelt stoppte er in der Bewegung und streckte ihm seine Hände entgegen. Auf seiner rechten Hand saß eine weiße Taube, in der linken Hand hielt er einen Haufen bestialisch stinkenden Kots. Daniel fühlte sich gespalten zwischen einem Empfinden von heiliger Reinheit und gräßlichem Ekel. "Befreie dich aus deinem stumpfsinnigen Gefängnis", rief der Narr ihm zu, streckte ihm noch einmal die Zunge heraus und brüllte: "Mach dich endlich auf den Weg, du Narr!" Dann begann er sich zu drehen, schneller und immer schneller, bis er sich in einer spiralförmigen Nebelwolke auflöste. "Du Narr ... du Narr ... du Narr ...", hallte es in seinen Ohren ...
Das Erwachen war ungewöhnlicher als sonst. Eine Weile trieb Daniel noch haltlos in der grauen Welt, die zwischen Schlafen und Erwachen liegt. Er öffnete einen Spaltbreit die Augen und benötigte eine längere Zeit, um sich zu orientieren. Noch einmal huschten die Bilder des Traums durch seinen Kopf, und ihm war sofort klar, daß dieser Traum eine besondere Bedeutung für ihn hatte. Er durfte ihn auf keinen Fall mit einem Achselzucken beiseite schieben und vergessen. Es war kühl geworden; ein leichter Wind bewegte die grüne Mauer aus herabhängenden Zweigen. Nachdem er Strümpfe und Schuhe angezogen hatte, trat er hinaus ins Freie. Gleich einem polierten Spiegel glitzerte über ihm ein klarer freundlicher Sternenhimmel. Unerklärlicherweise fühlte er sich so wohl wie lange nicht mehr, ja fast enthusiastisch, und mit raumgreifenden Schritten machte er sich auf den Heimweg. Im Hintergrund lagen die finsteren Umrisse der Berge, still und erhaben. Schweigend verfolgten sie seinen dunklen Schatten im hellen Licht der Sterne, bis er mit der Schwärze der ihn umgebenden Landschaft verschmolz.
Der Regen hörte auf, das hartnäckige Trommeln hatte sich in ein sanftes Rauschen an den dicken Fensterscheiben verwandelt. Die Glut in der Feuerstelle fiel in sich zusammen, ihr Schein war wie der letzte Zipfel der untergehenden Sonne. Er erhob sich, ging durch den halbdunklen Raum zu der Feuerstelle hinüber, legte neues Holz nach und beobachtete, wie zuerst kleinere, dann größer werdende Flammen daran leckten. Die sich ausbreitende, behaglich knisternde Hitze ließ einen Wärmeschauer durch seinen Körper rieseln. Er entzündete ein langes Streichholz an den tanzenden Flammen und steckte damit drei Kerzen im silbernen Kerzenhalter auf dem Tisch an. Riesig fiel sein Schatten auf die gegenüberliegende Wand. Draußen hatte der Regen jetzt ganz aufgehört. Der weiche, wächserne Kerzenschein bildete schlanke kleine gelbe und weiße Säulen, und das Licht schien zunehmend heller zu werden in der tiefen Stille des Raums. Eine Zeitlang umhüllte ihn der Frieden des Zimmers, bescherte ihm einen seltsamen losgelösten Augenblick des Glücks in all der Verwirrung, die ihn hierhergetrieben hatte. Fast glaubte er ihre Finger in seiner Handfläche zu spüren, so bewußt, wie er es in Wirklichkeit niemals wahrgenommen zu haben glaubte. Der Duft ihrer Haare schien seinen Geruchssinn zu streicheln, das Funkeln in ihren Augen, wenn sie hemmungslos über einen guten Scherz gelacht hatte ... "Warum", hauchte er schmerzhaft berührt, sah seine eigenen Gedanken, ein wirrer Brei halbumrissener Sehnsüchte und die Erinnerung an seine häufig egoistische unangemessene Halsstarrigkeit in bezug auf ihre Wünsche. Kleinlichkeit, Trägheit, tausend Nachlässigkeiten und dumme Fehler in der Vergangenheit, das war es, was sie auseinandergebracht hatte. "Wieso war ich nie fähig, ihr meine Liebe einzugestehen", murmelte er vor sich hin. Weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst, drängte sich ungewollt ein Gedanke in sein Bewußtsein, verbunden mit zusammenhanglosen Bildern, deren Sinn er nicht verstand. "Die Wahrheit", schnaubte er verärgert. "Was, verdammt noch mal, ist denn die Wahrheit?" Fühle sie. Stumm und hilflos schüttelte er den Kopf. Wiederholt drangen ungebetene Bilder in sein Bewußtsein, Bildesr aus Träumen, die er als kleines Kind gehabt hatte, und das Gesicht des Narren, dieses unverhohlene Grinsen, das ihn nun schon ein ganzes Jahr lang verfolgte. Die Erinnerung an eine Sehnsucht in ihm traf ihn wie eine Messerspitze, es war ein Verlangen, größer als alles, was er bisher erlebt hatte, eine wortlose Sehnsucht, die so tief begraben lag, daß er ihren Verlust niemals zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Plötzlich wußte und verstand er, als hätte sich etwas in ihm gedreht und auf die Wahrheit seiner Seele gerichtet. "Wahrheit", das war es, wonach er suchen mußte; auch wenn das im Augenblick noch etwas völlig Abstraktes für ihn bedeutete, so war es doch die einzige Möglichkeit, aus seinem selbstgeschaffenen Dilemma hinauszufinden. Auch wenn er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie er damit beginnen sollte. Unvermittelt sah er seine eigene Zukunft klar vor Augen, und er sah, was seine Entscheidung bedeuten würde: eine völlige Veränderung, radikal, allumfassend, unwiderruflich und furchteinflößend in allem, was er war, allem, was er tun oder sein würde. Dies war eine Entscheidung, die ihn unvorbereitet traf und doch wieder nicht, wenn er an die Träume seiner jüngeren Vergangenheit zurückdachte. Irgend etwas trieb ihn an, eine Kraft, die sein Leben in Bewegung brachte, ob er nun wollte oder nicht. "Ria", flüsterte er und spürte, wie sein Körper sich nach ihr sehnte. Einsamkeit hüllte ihn ein, ein Verlangen nach ihrer Gesellschaft und dem sanften Klang ihrer Stimme. Traurig setzte er sich an den Tisch, stemmte die Ellbogen darauf und ließ den Kopf zwischen die Hände gleiten. Ein Kloß saß in seinem Hals, und er schluckte schwer. Ganz allmählich legte sich eine schleichende Schwere über seine Glieder, und er verschob den Gedanken an eine Entscheidung auf den Morgen. Einige Minuten später kroch er unter die Bettdecke und ließ sich mit einem Seufzer in die Kissen sinken. Eine kurze Weile bewegten sich noch seine müden Augenlider, dann schlief er ein.
Dumpfe Schleier benebelten seinen Geist, verschluckten langsam die Wirklichkeit, ließen ihn in ein Durcheinander verschiedenartiger Bewußtseinsebenen trudeln. Eine Warnung blinkte wie ein winziger Alarmstich in seinem Unterbewußtsein auf, versuchte ihn wachzuhalten, doch es war zu spät. Unaufhaltsam trieb er in eine Welt, die dem Träumen ähnlich war und auch nicht. Er befand sich am Ende eines Wegs der direkt in einen Wald hineinführte. Das Astwerk der wuchtigen Bäume, die sich annähernd dreißig Meter in den wolkenlosen Himmel schrauben mochten, verflocht sich hoch droben zu einem über den Weg gewölbten Tunnel. Vollkommenes Schweigen lastete überall; und unterschwellig raunten zahllose Stimmen wie in einem geisterhaften Chor. Er stand wie gelähmt und lauschte widerwillig in die murmelnde Schwärze hinein: "Komm", keifte eine hohe Fistelstimme. "Komm, mein Kleiner. Du möchtest die Wahrheit? Komm nur, komm. Du sollst sie finden, mein Kleiner. Nichts als die reine Wahrheit." Er konnte sich nicht bewegen, weder vor noch zurück. Ein ungutes Gefühl nahm beständig zu, je länger er die Mündung des Tunnels anstarrte. Er legte den Kopf in den Nacken und spähte zu den Kronen der stummen Riesen hinauf, und plötzlich fielen Starre, Angst und Besorgnis von ihm ab. Mit einemmal erschienen ihm die unzähligen Ranken und zentnerschweren Flechten, die sich um die Stämme wanden oder gleich monströsen Polsterkissen an ihnen festklebten, wie gute alte Freunde. Weiße Blüten öffneten sich an den Knotenpunkten der Rankpflanzen und strömten einen betörenden, sinnlichen Geruch aus, überwältigten seine Zurückhaltung. Das Flüstern verebbte, verwandelte sich in ein süßes verlockendes Lied. Jeglicher Widerstand seinerseits schmolz dahin wie Eis im Sonnenlicht. Er tauchte in den Tunnel ein und damit in eine Welt verklärter Schönheit. Smaragdgrün gefärbte Lichtstrahlen brachen wie konische Säulen durch das Blattwerk, sprenkelten flimmernden Goldstaub auf die weichen Moospolster, die sich satt und behaglich zwischen die mächtigen Wurzeln der Bäume gebettet hatten. Kleine zarte Wasserbläschen tanzten silbern durch die Schatten. Das Lied wurde noch lieblicher, hielt ihn in einem faszinierenden Bann gefangen. Sein Schritt wurde gemächlicher. Er atmete die Schönheit und Gelassenheit ringsumher ein und verspürte eine kindliche Neugier, den oder die Urheber des Gesangs zu finden. Ein Lächeln perlte in ihm hoch, ließ seine Lippen in sanfter Erregung vibrieren. Das Lied wurde noch eindringlicher, strömte in Adern und Zellen seines Körpers, sein Herz begann im Rhythmus der wunderbaren Melodie zu schlagen. Immer mehr Wasserbläschen spritzten aus dem Unterholz hervor, gruppierten sich in vollendeten harmonischen Kreisen um ihn herum, zerplatzten und gebaren winzige schillernde nymphenhafte Wesen, die in die Melodie einstimmten und mit anmutigen Bewegungen durch die Luft glitten. Eine innere Stimme versuchte ihn erneut zu warnen, ihn zur Umkehr zu bewegen, doch er beachtete sie nicht. Die zauberhaften Wesen drängten sich immer näher an ihn heran, lockten ihn tiefer und tiefer in das Herz des Waldes. Die Stimme in ihm wurde lauter, und er versuchte, sie wie ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Verstand nicht ... noch nicht: folgte weiter den Wesen, ganz in die Betrachtung ihrer elfenhaften Gesichter versunken. Doch die Stimme wurde unnachgiebiger, fordernder: Hör zu, Gefahr, Hör zu. Ein vages Unbehagen wuchs stetig in ihm, und dann wurde ihm klar, daß er in eine Falle gelockt werden sollte. Er spürte ganz deutlich. Eine Kraft, eine weibliche Kraft versuchte ihn einzuwickeln: Komm, mein Kleiner. Komm. Komm. Du willst die Wahrheit. Dann komm, ja komm. Ich werde sie dir bringen. Ich werde sie dir schenken, dir ganz allein." Bis jetzt war alles gut, war er noch überschwemmt von Heiterkeit und Frohsinn, doch abrupt begann sich sein Erleben zu verändern: aus Vergnügen wurde Angst, aus Freude Finsternis, ja Verzweiflung. Er wollte zurück, war hin und her gerissen, vom Kampf zerrissen, die Nymphen waren fort und mit ihnen ihr strahlendes Lachen. Aus der Dunkelheit, die über ihm zusammenschwappte, trat ein noch düsterer Schatten hervor. Es war eine verrunzelte, häßliche Alte, das faltige Gesicht von unzähligen Narben durchzogen, mit schwarzen verfaulten Stümpfen statt Zähnen und einem Blick, boshaft und grausam wie aus den tiefsten Tiefen der Hölle. Auf ihrer Schulter hockte ein Rabe, den Schnabel halb geöffnet, das nichtssagende Auge starr auf ihn gerichtet. Die Lippen der Alten bewegten sich kaum merklich: "Komm", schnarrte sie leise mit ihrer heiseren Fistelstimme,"Komm ..." Nacktes Entsetzen nahm ihm die Kraft zu atmen, überhaupt in irgendeiner Weise zu reagieren. Langsam hob sie einen Stock in die Höhe, den er gar nicht bemerkt hatte, und dann flammten feurige Buchstaben gegen die Schwärze des Hintergrundes auf, formten sich zu einem Satz: IM HERZEN DES WALDES UND IN DER DUNKELHEIT DER NACHT WIRST DU VERSTEHEN ... und verblaßten. Die Alte beugte sich vor, öffnete den Mund, und ein hechelndes Kichern entrang sich ihrer Kehle, daß das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. "Wer ... bist, bist ... du?" stammelte er. "Was ... was willst du ... von mir?" "Ach komm", antwortete sie einschmeichelnd und tippte ihm fast freundschaftlich mit dem Stock gegen die Schulter, "das weißt du doch besser wie ich." "Nein. Bitte", flehte er, "sagen sie mir doch was sie von mir wollen." "Verdammt noch mal", brauste sie zornig auf, "willst du etwa behaupten, nicht nach der Wahrheit gerufen zu haben?" "Niemals", schrie er und wich vorsichtig einen Schritt zurück." "Bleib stehen, du verfluchter Hurensohn und sieh mich an." Er stand zitternd da und wagte nicht, sich zu rühren. "So ist es gut, mein Kleiner", krächzte sie und lächelte ihn hinterhältig aus ihren dunkel leuchtenden Augen an. Er blinzelte verwirrt, und plötzlich verwandelte sie sich. Da war nicht mehr eine häßliche Alte, sondern eine wunderschöne Frau mit pechschwarzem Haar, das in dicken welligen Lockenkaskaden um ihren Kopf flatterte. Augen blickten ihn an wie die geheimnisvoll schimmernde Oberfläche eines Sees, dessen Tiefe nur erforscht werden konnte, indem man in ihn hineintauchte. Ein Kleid aus den Blüten unzähliger Frühlingsblumen umhüllte ihren Körper. Sie drehte sich anmutig im Kreis, und bunte Farbtupfer wirbelten in seinem Geist. Sie sang und lachte, und es klang wie Himmelschöre ... löste sich auf, und es stand wieder die Alte vor ihm, hysterisch kichernd, und wieder die schöne Frau und die Alte und die schöne Frau und die Alte ... knochige Finger, mit einer Haut wie rissiges Leder wanden sich ihm gleich gierig züngelnde Schlangen entgegen, umgarnten ihn ... "Komm, mein Kleiner. Komm. Die Wahrheit wartet auf dich. Komm und folge mir ..."
"Nein", schrie er und schreckte hoch. Sein Herz hämmerte in der Brust, und sein Atem ging tief und rasselnd. Dunkelheit umgab ihn, eine Dunkelheit, die von einem geheimnisvollen Windhauch bewegt zu werden schien und erfüllt war von einem entsetzlichen Lauern. Vielleicht war es nur die übermäßige Anspannung seiner Nerven - aber er glaubte, in der Finsternis vor sich eine Bewegung zu erkennen. Gelähmt vor Angst weiteten sich seine Augen. Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft, berührte ihn unangenehm. Sein Herz schlug stechend gegen seine Rippen, als er sich vorsichtig zum Rand des Bettes schob und die Augen zu schmalen Sehschlitzen verengte, um die dichte Schwärze zu durchdringen. Nervös fingerte er nach den Streichhölzern auf dem Beistelltischchen, die im nächsten Moment mit einem trockenen unheilvollen Knall auf dem Boden landeten. Das Geräusch durchzuckte ihn wie ein unerwarteter Peitschenhieb. Was danach geschah, sollte ihm erst Wochen später klar werden. In einer einzigen fließenden Bewegung glitt er aus dem Bett, griff die Streichholzschachtel, öffnete sie, entzündete ein Holz, drückte die aufzischende Flamme an den Docht einer Kerze, die er dann mit ausgestrecktem Arm vor sich hielt. Ihr schwach zitternder Schein hüllte den Raum in honigfarbenes Licht. Nichts und niemand war zu sehen. Erleichtert machte er einen tiefen Atemzug und ließ seine angespannten Schultern hinabsinken. Einige Fliegen schwirrten aufgeschreckt durch die plötzliche Helligkeit, sonst war er allein. Erschöpft wischte er sich mit der freien Hand den Angstschweiß von der Stirn und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Er goß sich Wasser in ein Glas und leerte es mit kräftigen Zügen. Wie bist du bloß auf die absurde Idee gekommen, dich allein in die menschenleere Wildnis des norwegischen Hochlandes zurückzuziehen, schimpfte er in Gedanken mit sich selbst und erinnerte sich gleichzeitig an das häßliche Gesicht der Alten aus dem langsam verblaßenden Traum. IM HERZEN DES WALDES UND IN DER DUNKELHEIT DER NACHT WIRST DU VERSTEHEN ... die Worte standen klar und scharf umrissen vor seinem inneren Auge, brannten sich förmlich wie ein Zeichen in seinen Geist. So sehr er sich auch bemühte, konnte er doch keinen Sinn darin erkennen. Er stellte das Glas auf die Spüle. "Seltsam", murrte er und schlurfte zu dem kleinen Fenster im Schlafraum hinüber. Mit dem Ärmel seiner Schlafanzugjacke reinigte er das feuchte Glas. Die Wolkendecke war aufgerissen und der volle Mond starrte vom zerklüfteten Grat der westlichen Berge auf ihn hinunter. Wo mochte Ria jetzt sein? Vielleicht lag sie gerade geborgen in den Armen eines neuen Liebhabers. Einen Augenblick trübte der aufsteigende Kummer seinen Blick, und er sah nichts mehr. "Hör auf, dich sinnlos zu quälen", sprach er mit sich selbst, blies die Kerze aus und schaute in die düstere Landschaft. Draußen umdrängte der frühsommerliche Wald, in tiefes Schweigen gehüllt, die Hütte. Es würde noch einige Wochen dauern, bis auch hier oben der letzte Schnee von den stärker werdenden Strahlen der Sonne geschmolzen war. Eine für ihn beängstigende Welt blickte ihm entgegen, eine Welt feuchtbrauner Rinde, schwarzer Kiefern und kahler verkrüppelter Unterholzzweige, die aus vereinzelten Schneewehen ragten wie froststarre Hände eines Leichnams. Aus weiter Ferne ertönte dünn und hoffnungslos das einsame Heulen eines Hundes wie der Schrei einer verlorenen Seele. Eine ungewohnte Stimmung erfaßte ihn, Gedanken an Tod und Vergänglichkeit, denen er sich mit letzter Kraft entgegenzustemmen versuchte. Einen Herzschlag lang riß ein tiefes Loch der Verzweiflung in seinem Innern auf, und alles erschien ihm farblos und ohne Leben. Er schloß die Augen und drängte den dumpfen Schmerz mit Zynismus, der einzigen Waffe, über die er je verfügt hatte, zurück. "O ja, mein Junge", raunte er gedämpft, "es geht dir heute mal wieder ganz prächtig." Ermattet und mit einer Spur von Resignation, kroch er wieder unter die Bettdecke und ließ sich von den verlockenden Armen des Schlafes einlullen. Ein heftiger Windstoß fegte über das Dach. Die alten Sparren knarrten und ächzten unter seiner Wucht. Er hörte es nicht mehr.
Am Morgen wurde er unsanft durch lautes Pochen an der Tür geweckt. Nach dem Licht zu urteilen, das durchs Fenster hereinfiel, mußte es schon später Vormittag sein. Er eilte zur Tür und schob den Riegel zurück. Das Gesicht eines großen kräftigen jungen Mannes mit Schnauzbart schaute ihn verwundert an. Seine meerblauen Augen bewegten sich flink in den Höhlen, und ein belustigtes Funkeln blitzte darin auf. "Guten Morgen, Herr Ruhland." "Äh. Guten Morgen." Daniel streckte ihm die Hand entgegen und wurde sich seines peinlichen Aufzuges bewußt. "Mein Name ist Hark", fuhr der Fremde fort. "Ich bin der Sohn von Marja, die Ihnen die Hütte vermietet hat." "Aha?" "Meine Mutter hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß wir heute am Abend ein Fest im Dorf feiern und daß Sie herzlichst dazu eingeladen sind." "Ja, hm. Danke schön. Ich werde natürlich sehr gern kommen." Verlegen sah er auf den Erdboden und suchte nach Worten. "Also", entgegnete Hark, "ich gehe dann wieder. Einen schönen Tag noch. Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen." Daniel schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. "Idiot", betitelte er sich mürrisch, "benimmst dich wirklich wie ein Fünfjähriger. Es wäre ja wohl nur angemessen gewesen ihn zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Immerhin sind es gut eineinhalb Stunden Fußmarsch vom Dorf bis hier herauf." Fröstelnd griff er nach dem Morgenmantel, der am Haken neben der Tür hing, und schlüpfte hinein. Er trat an die Feuerstelle und stocherte unentschlossen mit dem Schürhaken in der kalten Asche. "Bei Gott ", stieß er verärgert hervor, "es wird schon nicht so schlimm sein. Immerhin hab` ich die Einladung angenommen." Doch er war sich nicht im klaren, ob er sich darüber freuen sollte. Eigentlich hatte er sich geschworen, mit keiner Menschenseele näheren Kontakt aufzunehmen. Aber wenn er jetzt der Einladung nicht folgen würde, wäre das eine Verletzung der ihm gewährten Gastfreundschaft, und er wußte nicht so recht, ob ihm das einfach verziehen würde. Wohl oder übel mußte er sich den Gegebenheiten fügen. Er ging in die Knie und stapelte kleine Zweige übereinander. Erst als diese brannten, legte er größere Holzstücke und dann mehrere Äste hinein. Er hielt seine Hände über die Flammen und wärmte sie. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel erschien ihm das Gesicht Rias im Feuer. In der Erinnerung klang ihre Stimme dünn und gepreßt, so, als müsse sie gegen ein aufwallendes Gefühl ankämpfen. Tränen schimmerten in ihren dunkelbraunen Augen, und ihre Lippen bebten, als die Worte dann doch wie ein Strom aus ihr hinausflossen: Es ist vorbei, Daniel. Es hat keinen Zweck mehr mit uns. Ich habe es versucht. Habe immer und immer wieder versucht, dich zu verstehen. Ich akzeptiere deine Probleme, deine Angst, über deine Gefühle zu sprechen, dein Innerstes mitzuteilen. Aber ich kann nicht mehr, Daniel. Ich bin an der Grenze meiner Geduld angelangt und habe keine Hoffnung mehr, daß wir noch so zueinander finden werden, wie ich es mir wünsche. Ich kann und will meine tiefsten Bedürfnisse nicht mehr zurückhalten. Ebenso möchte ich kein taktisches Verhalten dir gegenüber an den Tag legen, aus Angst zuviel von dir zu fordern, um doch nur mitansehen zu müssen, wie du dich von mir zurückziehst, in dein eigenes unerreichbares Universum. Ich habe keine Lust mehr, nur meinen Sehnsüchten nachzuhetzen, und am Ende bleibt mir nichts als Schmerz. Verstehst du, Daniel. Ich möchte um meinetwillen geliebt werden und erfüllt sein von dieser Liebe bis in die letzte Zelle meines Körpers. Ich glaube nicht mehr daran, daß sich dieser Wunsch mit dir verwirklichen läßt. Vielleicht im kleinen, durch Gesten und Anspielungen, aber das ist mir nicht genug. Ich möchte deine Liebe direkt, von Herz zu Herz, ohne Umwege. Bitte verzeih mir, daß ich nicht die Geduld aufbringe, die du benötigst. Es tut mir leid. Ein letztes Mal hatte sie ihre Hände in seine gelegt. Er spürte noch heute, wie sie sich von ihm löste und ihre Fingerspitzen zum Abschied sanft über seine Wangen glitten. In diesem Augenblick war etwas in ihm zerbrochen, und ein Gefühl hatte ihn erfaßt, als habe er unwiderruflich einen kostbaren Schatz in den Fluten des Meeres versinken lassen. Und das schlimmste daran war, daß er wußte, das er selbst es gewesen war, der ihn ins Wasser geworfen hatte. Das Bild von Ria verschwand. Aus dem Bann dieser schmerzlichen Erinnerung entlassen zu werden war wie ein Erwachen, aber ein Erwachen in eine verständnislose Welt. Daniel stellte fest, daß Schweißperlen auf seiner Stirn standen, wie nach einem Schock oder einer großen Anstrengung. Zum wiederholten Male fragte er sich, warum er hierhergekommen war, ausgerechnet hierher. Ein unbestimmbares Gefühl, fast so etwas wie eine innere Stimme hatte ihn unnachgiebig dazu getrieben, diese Hütte zu mieten. Und eine Ahnung, ein Wissen war in ihm, daß er hier finden würde, wonach er suchte. Das Feuer prasselte, und das Holz brach seufzend auseinander. Er nahm einen dickeren Zweig und schob es wieder zusammen. Der Sprühregen aufsteigender Funken glitzerte wie Feuerwerk gegen den verkohlten, rußschwarzen Hintergrund des Kamins. Er wickelte sich fester in seinen Morgenmantel und warf einen Blick durch das Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel in den Raum, Tausende von Staubpartikeln tanzten darin; ein Vogel sang sein Lied, und ein freundlich-wehmütiges Lächeln huschte über seine Lippen.
Das Licht der Sterne begann schon schwach am Himmel zu leuchten, als er sich auf den Weg ins Dorf machte. Nach einigen Minuten befand er sich auf hügeligem Boden, der hier und dort anstieg und wieder abfiel. Der Wald, durch den er schritt, wurde offenbar nur selten von Menschen betreten; man konnte keine Anzeichen von Forstarbeiten darin erkennen. Viel totes Holz lag herum, das er manchmal nicht umgehen konnte, so daß es laut unter seinen Stiefeln krachte. Es schien ihm, als ob dieser Lärm weit zu hören sein müßte. Die Bäume waren groß und hatten vereinzelt kaum Blätter. Immer wieder traf er auf Gruppen von kleinen Nadelbäumen, die sich mit ihrer fast dreieckigen Form wie tiefe Schatten von den feineren Strukturen der übrigen Bäume abhoben und teilweise den dunkler werdenden Himmel verdeckten. Zum Glück hatte er ein gutes Orientierungsvermögen und kam so eine Zeitlang ohne große Mühe voran. Ab und an mußte er einen Umweg machen, weil dichtes Gestrüpp ihm den Weg versperrte, und einmal mußte er sogar Stiefel und Socken ausziehen, um einen kleinen Bach zu durchwaten. Das Wasser war eiskalt, und obwohl die Oberfläche trügerisch glatt wirkte, hatte das schmale Gewässer eine reißende Strömung. Daniel wäre fast hineingefallen, als er auf einem der glatten Steine ausrutschte. Doch er schwankte nur kurz und fand rasch sein Gleichgewicht wieder. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, daß er nicht so allein war, wie er zunächst angenommen hatte. Es war zwar nichts zu hören außer dem Plätschern und Singen des dahinströmenden Baches und den noch leiseren Geräuschen, die die Hindernisse im Wasserlauf erzeugten, und doch ... Ein schwerer mannshoher Stein ragte steil aus dem Wasser und glänzte naß in der Dämmerung. Der untere Teil eines Baumes wurzelte halb in einer schrägen ôffnung und hing zur anderen Hälfte in der Luft. Darunter gähnte ein Loch, das groß genug war, jedem Tier, gleich welcher Größe, einen Unterschlupf zu bieten. Ein kalter Schauer rieselte sein Rückgrat entlang, und er verfluchte sich stillschweigend dafür, daß er nicht den ihm bekannten Weg eingeschlagen hatte. Die Blätter und Zweige des umgefallenen Baumes schwebten wie ein Vorhang über dem Bett des Baches. Durch die tiefherabhängenden Zweige strömte gurgelnd und rauschend das Wasser. Ein ihn irritierender Klang entstand so, der sich über das sonore Rauschen des aufkommenden Windes in den Baumwipfeln legte. Er blieb regungslos stehen, da er glaubte, etwas gehört zu haben, und starrte auf das Loch unter dem Baum. Vielleicht hatte dort ein Tier seine Höhle oder sein Nest gebaut. Aber da sich in der Dunkelheit nichts regte, kam er zu der öberzeugung, er müsse sich geirrt haben. Bisher hatte er keine Angst gehabt und sich in der sich verdichtenden Finsternis des Waldes eher sicher und geschützt gefühlt. Doch jetzt hatte er das Gefühl, heimlich beobachtet zu werden, und er spürte die Anwesenheit eines Menschen. Vielleicht waren es sogar mehrere, die jeden seiner Schritte beobachteten und ihm folgten. Normalerweise hätte er solchen Gefühlen keine Beachtung geschenkt. Dunkelheit und ein unbekannter Wald waren eine ideale Brutstätte der seltsamsten Einbildungen. Aber durch die aufkeimende Furcht waren seine Sinne geschärft. Irgend etwas, irgend jemand befand sich in seiner näheren Umgebung. Hastig warf er erneut einen Blick in das tiefschwarze Loch unterhalb des Baumes. Für die Zeit eines Atemzuges glaubte er dort fremdartige Augenschlitze zu sehen, wie die Augen einer Katze im Licht eines Scheinwerfers. Seine Furcht steigerte sich. Er sah zum Himmel hinauf. Die Nacht war hereingebrochen, und vereinzelt entdeckte er das helle Funkeln von Sternen zwischen dem Ast- und Blätterwerk der Baumkronen. Eine zwiespältige Stimmung erfaßte ihn, soetwas wie eine Bewußtseinsspaltung. Auf der einen Seite das Gefühl der Angst und einer drängenden Stimme, die ihn mahnte, sich augenblicklich Hals über Kopf in die Büsche zu schlagen; auf der anderen Seite Neugier und ein ihm bisher unbekanntes Gefühl der Erregung, eines Mutes, der ihn antrieb, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Weile verharrte er in dieser inneren Zerrissenheit, nicht wissend, welchem Impuls er folgen sollte. Das Geräusch hektischer, hechelnder Atmung beraubte ihn jeglicher Zweifel. Blitzschnell drehte er sich um und setzte seinen Weg so schnell wie möglich fort, fest entschlossen, dem oder den unbekannten Wesen jegliche Aufmerksamkeit zu entziehen. Seine Füße waren immer noch kalt und feucht, aber er zwang sich, schneller zu gehen, bis die Kälte aus seinem Körper wich. Immer wieder warf er verstohlene Blicke über seine Schulter; anscheinend folgte ihm niemand. Manchmal stolperte er aus Unachtsamkeit und zog sich dabei einige Kratzer und Hautabschürfungen zu. Er hatte kein Zeitgefühl mehr, nur die Gewißheit, bereits eine beachtliche Strecke hinter sich gebracht zu haben. Für einige Minuten verließ ihn der Mut, denn der Wald schien ständig dichter und wilder zu werden, statt sich zu lichten. Vorsichtig stieg er einen zerklüfteten Hang hinab und gelangte in ein Tal, wo statt hoher dichtstehender Bäume viele halbhohe Sträucher wuchsen, unterbrochen von kleinwüchsigen Heidekrautfeldern und Gesteinsbrocken, die mit Flechten und Moosen überwachsen waren, die im Licht des aufsteigenden Mondes silbrig schimmerten. Nachtvögel flohen erschreckt aus ihren Nestern auf, als er sich näherte. Ihr plötzliches Gekreische in der Totenstille um ihn her ließ ihn vor Schreck erstarren. Sein Herz hämmerte. Das dumpfe Klatschen von mächtigen Flügeln ertönte nur einige Meter von ihm entfernt. Flüchtig nahm er einen schwarzen Schatten wahr, und er meinte den Lufthauch, den der Uhu oder was immer es gewesen sein mochte dabei entwickelt hatte, auf seiner Haut zu spüren. Seine Nackenhaare begannen sich zu sträuben, und er entwickelte den fast unwiderstehlichen Drang, sich zwischen den Sträuchern zu verkriechen. Mit aller Kraft kämpfte er dieses Gefühl nieder und zwang sich weiterzugehen. Während seine Hände und Füße wie von selbst nach Halt suchten, beschäftigte sich sein Bewußtsein mit anderen Dingen. Er fing an, alte und schon halbvergessene Lieder vor sich hinzusummen, und diese Ablenkung half tatsächlich. Unversehrt erreichte er das Ende des Tals. Zu seiner Genugtuung stellte er fest, daß er in der richtigen Richtung gegangen war. Schwankend und keuchend blieb er stehen und gönnte sich einen Moment der Ruhe. Der klare, kalte und sternenübersäte Nachthimmel spannte sich wie die Decke eines riesigen, diamantenbestickten Pavillons über ihm. Ein Schleier der Verzauberung begann vor seinen Augen zu tanzen, verdichtete sich und zerriß. Er machte mehrere tiefe Atemzüge, und mit einemmal fühlte er sich so frisch und klar wie der Morgen, und eine ungeahnte Kraft nahm von ihm Besitz. Er wandte sich um und lachte der Finsternis und der gerade durchlebten Angst ins Gesicht, schüttelte lächelnd den Kopf über seine eigene Torheit. Er drehte sich um weiterzugehen. Völlig überrumpelt starrte er in zwei feurig aufblitzende Augenschlitze, stolperte entsetzt mehrere Schritte rückwärts und wäre beinahe hart auf den Boden geschlagen, konnte sich aber mit einer schnellen Reaktion abfangen und so den Sturz mildern. Seine Hände rissen sich an scharfkantigem Gestein blutig, und er schrie vor Schmerz laut auf. "Verdammt. Was fällt dir ein", brüllte er, denn noch während er fiel, hatte er erkannt, daß eine Frau vor ihm stand: lockiges langes Haar und weichfließende Linien gegen den dunkelblauen Hintergrund. Doch sie war fort, als habe sie ein Erdspalt verschluckt. Mühsam rappelte er sich hoch und war nur noch darauf erpicht, endlich ohne weiteren Schaden das Dorf zu erreichen. Der Baumbewuchs wurde spärlicher, und ein kahler, sanft ansteigender Hang wurde sichtbar. Ein mit Geröll übersäter Pfad wand sich in trägen Kurven in die Höhe, umgeben von Felsen, zwischen denen eine einzelne verkrüppelte Kiefer Wurzeln gefaßt hatte. Er leckte mit der Zunge über seine Handflächen und schmeckte süßes Blut. Am Ende des Pfades hob sich eine Reihe breiter und niedriger Gebäude gegen den Schein eines Dutzends oder mehr Glühlampen ab. Eine flackerte wild und würde wohl bald erlöschen. Er seufzte erleichtert, glücklich darüber, endlich angekommen zu sein, füllte seine Lungen mit dem Nachtwind und steuerte auf eine Tür zu, aus der lautes Gelächter und dröhnender Gesang schallten. Als er den hellerleuchteten Raum betrat, schlug ihm eine Wolke von Qualm und Alkohol entgegen. Ein unbeschreiblicher Tumult spielte sich vor seinen Augen ab: Frauen kreischten vor Freude, und Männer schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Einige Paare hatten mit einem stampfenden Tanz begonnen, der von hohen jauchzenden Freudenschreien begleitet wurde. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes spielte eine Kapelle, bestehend aus zwei Männern und einer Frau. Mehrere Köpfe wandten sich ihm zu, und Marja, von der er die Hütte gemietet hatte, löste sich von einer provisorisch zusammengezimmerten Bar, um ihn mit einem strahlenden Lächeln zu begrüßen. "Guten Abend", sagte sie, "Sie kommen spät, aber besser..." Sie hakte sich bei ihm unter und bemerkte die blutigen Abschürfungen an seinen Händen. "Was ist das denn?" "Ach nichts", wehrte Daniel ab, dem zu viel Aufmerksamkeit und Aufhebens um seine Person immer schon peinlich gewesen waren, "nur ein dummer Sturz in einem unbedachten Augenblick." "Na", gab die wesentlich ältere Frau resolut zur Antwort, "das sieht mir aber doch nach etwas mehr aus. Kommen Sie mit. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann." Forsch drängelte sie sich durch die dichtstehende Menge ihm vereinzelt freundlich zunickender Menschen. Die ganze Situation war ihm sehr unangenehm. Aber was sollte er tun? Mit einem Schulterzucken beugte er sich seinem Schicksal, folgte Marja durch eine Tür in einen dunklen Flur, von wo aus sie ihn durch eine weitere Tür schob und das Licht einschaltete. Er setzte sich auf den einzig vorhandenen Stuhl, während Marja eine Schublade aufzog und darin kramte. "Ah, da haben wir es ja." Sie stellte ein kleines dunkelbraunes Fläschchen auf den Tisch und öffnete den Drehverschluß. "Das wird Ihnen helfen. Eine Wundsalbe, von unserer dorfeigenen Kräuterhexe hergestellt. Wirkt wahre Wunder bei solchen Verletzungen. Sie nahm nacheinander seine beiden Hände und massierte, doch erst nachdem sie sie mit Wasser gereinigt hatte, behutsam und sanft die dickflüssige Paste in seine empfindliche verletzte Haut ein. Die Wundsalbe schmerzte, wirkte jedoch gleichzeitig herrlich kühlend. "Danke", sagte er, als sie das Gläschen in der Lade verstaute. "Es tut schon jetzt sehr gut." "Was ich Ihnen sage", entgegnete sie, freundschaftlich mit dem Auge zwinkernd, "in einigen Tagen werden Sie nichts mehr von den Schnitten sehen. Kommen Sie. Ich werde Sie miteinander bekannt machen." "Was meinen Sie? Ich verstehe nicht?" "Mit unserer Dorfhexe. Was haben Sie denn gedacht? Aber", raunte sie ihm belustigt ins Ohr, "nehmen Sie sich in acht. Sie ist gefährlich, besonders für die Männer." "Warten Sie", völlig grundlos bekam er plötzlich Angst. "Ja." "Ach nichts. Es ist nichts", log er und folgte ihr angespannt zurück in den Trubel und die heitere Ausgelassenheit der Gäste. Jemand bot ihm im Vorübergehen ein gefülltes Glas, das er mit einem Wink ablehnte, woraufhin er einen unverständlichen Blick erntete. Marja deutete ihm mit einer Bewegung ihres Kopfes an, ihr nach draußen zu folgen. "Hark hat mir gesagt, daß sie hinausgegangen ist", rief sie ihm zu. Als sie die Tür öffnete, schlug ihm ein kalter Windstoß entgegen; fröstelnd schlug er den Kragen seines Mantels hoch, den er immer noch trug. "Aischa?" "Ja?" Irgend etwas sträubte sich in Daniel, als er die ihm unbekannte Stimme hörte. Eigentlich war er in dieses Land gekommen, um in Ruhe und Abgeschiedenheit seine Probleme bewältigen zu können, und nun war er dazu verpflichtet, einen Haufen Leute kennenzulernen, die ihn eigentlich nicht sonderlich interessierten, auch wenn sie sich sehr freundlich ihm gegenüber verhielten. "Kommst du bitte mal. Ich möchte dir einen unserer Gäste vorstellen." Daniel trat unsicher auf die beleuchtete Straße. eine junge Frau mit langem lockigen Haar bog um die Ecke des Hauses. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Gut eine Armeslänge von ihm entfernt blieb sie stehen und reichte ihm die Hand. Die Haustür fiel ins Schloß, und Marja war verschwunden. Er spürte Zorn in sich aufsteigen, weil sie ihn einfach allein mit der Unbekannten hier stehenließ. Dann zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Bann. Es war die Frau vor ihm. Etwas an ihrer Ausstrahlung fesselte ihn auf der Stelle. Er spürte unnahbare überlegene Autorität, vermischt mit einer Warmherzigkeit, wie er sie noch niemals zuvor bei einem Menschen wahrgenommen hatte. "Guten Abend", sagte sie, "mein Name ist Aischa. Ich freue mich, Sie kennenzulernen." Die Wärme und Weichheit ihrer Stimme ließen einen Schauder durch seinen Körper rieseln wie das Streicheln einer Hand, und sie verursachte ein Beben in ihm, das zugleich schmerzlich und wonnevoll war. Wie schön sie war! Was für ein Feuer in ihren Augen glänzte, welche Glut und Leidenschaft diesem Körper innewohnen mußten. Verwirrt lachte er in sich hinein und stellte sich einen Augenblick lang vor, daß er ihr ungehemmt verrückte Worte sagen wollte, Worte von Schönheit und Liebe. Aber er brachte nicht mehr als ein paar formelle Worte der Begrüßung heraus, die seinem Gefühl nach inhaltlos und leer klangen. Daniel fühlte sich unbeholfen in ihrer Gegenwart. Gott sei Dank war niemand außer ihr anwesend, der ihn in diesem Zustand der Hilflosigkeit beobachten konnte. Sie stand still da und betrachtete ihn mit ihren im Lampenlicht grünglänzenden Augen, als ob sie ihn durchschaute und Dinge wahrnahm, die er selbst nicht sah. Seine deutliche Verlegenheit schien sie nicht im geringsten zu verunsichern, nur ein kaum merkliches Verziehen des Mundes deutete er so, als belächele sie ihn innerlich. Einen Moment lang fühlte er sich gedemütigt und enttäuscht. Sie musterte ihn aufmerksam. "Komm", sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns, "laß uns tanzen." Die Vertraulichkeit in ihrer Anrede überraschte ihn, und er wußte nichts Besseres zu tun, als wortlos zu nicken. Im stillen verfluchte er seine Unbeholfenheit, die ihn linkisch werden ließ, wo doch entwaffnender Charme in dieser Situation wesentlich angebrachter gewesen wäre. Sie griff nach seiner Hand und sah die Schnittwunden. "Wann ist das passiert?" "Vor kaum einer Stunde, kurz vor dem Dorf. Plötzlich, wie aus dem Nichts stand eine Frau vor mir in der Dunkelheit. Ich habe mich so erschreckt, daß ich den Halt verloren habe und ..." Er stockte, denn wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam die Erkenntnis ... "das warst du, nicht wahr?" Sie blickte ihm nur in die Augen und schwieg. "Und in der Höhle unter dem Baum, diese blitzenden Augenschlitze ..." "Ja, du hast recht", warf sie ungeduldig ein, "aber nun mach. Ich will weitertanzen." Drinnen stellten sich in diesem Moment Männer und Frauen in Zwölfergruppen auf. Hier und da ertönte der Ruf: "Hierher! Wir brauchen noch Paare!" Daniel sah, daß Hark sich zu einer jungen Frau gesellt hatte, die errötend den Kopf schüttelte und verlegen kicherte. Er hörte seine rauhe und polternde Stimme: "Du wirst mir doch nicht den ersten Tanz abschlagen, um den ich dich bitte." Hark schlang den Arm um ihre Schultern und zog sie in den Kreis der Tänzer. Aischa hakte sich bei Daniel ein und postierte ihn auf der Tanzfläche. "Halt", rief er, "ich weiß doch überhaupt nicht, wie das geht." "Sei nicht so ein Angsthase. Es ist ganz einfach." Es war keineswegs einfach. Daniel rief ihr über die Schulter zu: "Du hast mich angelogen!" Doch während sie ihm aus den Armen eines anderen Tanzpartners mit den Augen zulächelte, wurde er schon herumgewirbelt. "Tut mir leid!" keuchte eine ihm unbekannte Frau, dann war sie schon wieder verschwunden. Die Musik, Aischa und die ausgelassene, wilde Atmosphäre gingen ihm wie Feuer durch und durch, schärften seine Sinne und veränderten sein Zeitgefühl. Im war zumute, als wäre er in alle Tänzerinnen gleichzeitig verliebt - in Marja, die sich mit unerwarteter Anmut in seinen Armen drehte, und in die Partnerin von Sven, die ihn mit ihren roten Wangen und ihrem Gekicher in Erstaunen versetzte. Hände streckten sich nach ihm aus - lange Hände, narbenbedeckte Hände, schmale, feingliedrige oder knochige Hände. Blondes, rotes und schwarzes Haar flogen im Strudel der Musik schneller und schneller, und die Menschen lachten und jauchzten, während vertraute und zumeist unvertraute Gesichter an ihm vorüberwirbelten. Dann hielt er Aischa, die biegsame Leichtigkeit ihres Körpers an ihn geschmiegt, wieder in den Armen. Jemand hielt ihm eine Flasche Gin entgegen, und Daniel nahm einen tiefen Schluck zwischen zwei keuchenden Atemzügen. Rufe wurden laut: "Küßt sie. Küßt eure Frauen, Männer! Sie haben es verdient!" Er sah lachend auf die Frau hinunter, die ihn herausfordernd anblickte. Ihr schwarzes Haar floß in Wellen über die leuchtend bunt bestickte Weste hinunter. Sie schmunzelte ihn aufmunternd an, und er zog sie fest an sich. Ihre Lippen schmeckten nach Gin und der verführerischen Süße der Leidenschaft. Sie legte die Hände um seinen Nacken, und ihre Finger zausten sein Haar. Die Umstehenden applaudierten begeistert, und eine Ewigkeit lang gab es nichts und niemanden um ihn als das Feuer des Tanzes in seinem Blut und die Wärme der Frau in seinen Armen. Er war glücklich wie lange nicht mehr, und vergessen waren alle Gedanken an Ria, an Trennung und Schmerz. Das ist also Liebe, dachte er. Ja, so muß es sein. Einen Augenblick war er verwirrt, spürte nur, wie sein Herz unter dem Brustkorb schlug. Er befeuchtete seine Lippen, die plötzlich trocken waren. Die Wärme ihrer schlanken und kräftigen Hände übertrug sich auf die seinen. Er blieb eine Zeitlang so stehen, mit einemmal wissend, daß diese Stunde, in der sich ihre Leben berührten, schon seit langem festgelegt war, ebenso unabänderlich und notwendig wie das Atmen. Alles, was jemals geschehen konnte und geschehen würde, geschah hier und jetzt, in diesem Haus, eine Stelle, die ebenso geeignet war wie jeder andere Ort. Er schlang seine Arme um ihren Nacken und legte den Kopf an ihren Hals, kostete den Geruch ihres Körpers und den Duft eines völlig anderen und neuen Lebens. Sein Herz begann noch heftiger zu schlagen vor Erregung und völlig unsinnigem Stolz sowie Sehnsucht, mit ihr irgendwohin zu gehen, wo sie allein und unerreichbar waren. Er nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her, fort von den anderen Tänzern, hinaus in die erfrischende, kühle Abendluft. Sein Glücksgefühl, die Frau in seinen Armen, die Erhabenheit des unendlichen Sternenhimmels, dies alles trug dazu bei, ihm Freude und Vertrauen wiederzugeben, Gefühle, an denen es ihm in den letzten Wochen bitter gefehlt hatte. Er wurde sich seiner eigenen Winzigkeit in dieser überwältigend großen Welt bewußt und der Nichtigkeit sogar der gräßlichsten Taten des Menschen verglichen mit der ewigen Herrschaft von Wasser und Wind, Himmel und Erde. Frieden breitete sich in ihm aus und das Gefühl einer fast beängstigenden Kraft. Weiche Lippen schmiegten sich an sein Ohr, und eine leise Stimme flüsterte: "Sei vorsichtig, mein Junge. Sie wird dich mit ihrem Liebeszauber bannen, und dann bist du auf ewig ihren scharfen Krallen ausgeliefert ..." Abrupt drehte er den Kopf zur Seite, erstarrte in der Bewegung, und ein Ausdruck von Betroffenheit strich wie ein Schatten über sein Gesicht. Aischa glitt aus seinen Armen und beobachtete ihn neugierig aus einiger Entfernung. "Was ..." war alles, was er sagen konnte, dann brach Marja, die ihn so rücksichtslos gefoppt hatte, in schallendes Gelächter aus. Verhaltener Zorn und gekränkte Eitelkeit stiegen in ihm auf wie bei einem Kind dem man gerade sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. "Warum sagst du so etwas?" fragte er Marja und konnte dabei seine Verletztheit und den angegriffenen Stolz nicht völlig verbergen. "Weil es stimmt!" "Was stimmt?" "Mein Gott, bist du schwer von Begriff. Daß sie eine Hexe ist, natürlich." "Du willst mich auf den Arm nehmen." "O nein, Herr Ruhland. Dafür sind Sie mir viel zu schwer." Daniel fand diesen abgedroschenen Witz nicht sehr lustig. Er spürte, wie verwundbar er durch sein Liebesgefühl zu Aischa geworden war, und wurde den Eindruck nicht los, daß Marja das ganz genau wußte und sich auf seine Kosten einen üblen Spaß erlaubte. Marjas Hand schoß vor und legte sich um sein Handgelenk: "Wo bleibt ihr Humor, junger Mann?" Er versuchte ihr den Arm zu entziehen, aber der Griff ihrer Finger war sehr fest. Das machte ihn nur noch wütender. Kalt und zornig wandte er sich ihr zu, doch als er sie anblickte, entdeckte er etwas in ihren weitgeöffneten, blauen Augen das er nicht zu sehen erwartet hatte. Sein Zorn bedeutete ihr nichts; kein Zurückzucken, keine Angst. Verdutzt und ungläubig blickte er sie an. Marja schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück ins Haus. Bevor sie die Tür hinter sich schloß, hörte er ein halblaut gesprochenes Wort, "Männer". Oh, wie haßte er Augenblicke wie diesen, Augenblicke, in denen er sich hilflos und dumm vorkam, und in denen er sich grausam isoliert fühlte, allein gelassen mit seinen Schwächen, die er bekämpfte seit er denken konnte. Aischas Fingerspitzen berührten sanft seinen Handrücken, was einen scharfen Stich des Schmerzes in seiner Magengrube auslöste, der ihm unbegreiflich war und den er sofort ignorierte. Daniel wagte nicht, den Kopf zu heben und ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. So, in diesem Zustand, sollte sie ihn auf gar keinen Fall zu Gesicht bekommen. Ein leichter Schauer durchrieselte, ihn und dann setzte die Gewohnheit von Jahren ein. Er wußte selbst nicht genau, wie es geschah. Es war wie ein innerliches Vereisen und Einkapseln aller Gefühle, wie die automatische Disziplin eines Soldaten, die ihm bis in die Knochen gegangen war, seinen eigenen Ausdruck abschliff und ihn kalt und zurückhaltend werden ließ. Sein Verhalten machte ihn keineswegs glücklich, aber es gab ihm die nötige Sicherheit, um nicht in Situationen wie dieser vor den Augen anderer Menschen zusammenzubrechen und womöglich noch in Tränen auszubrechen. "Was schaust du mich so an", schimpfte er Aischa herablassend an. Er meinte den Blick ihrer durchdringenden Augen körperlich zu spüren. "Was willst du von mir?" Während die barschen Worte aus ihm hinausplatzten, hatte er gleichzeitig das Gefühl, ja den Wunsch, sich in ihre Arme zu werfen und sich an sie zu schmiegen; doch sein Stolz und eine tiefsitzende Furcht waren stärker. "Unlebendigkeit hat seine Ursache vor allen Dingen in Angst und unterdrücktem Kummer", antwortete Aischa unvermittelt, ohne auf seine Fragen einzugehen. Wie ein Blitz schoß ihm die Erinnerung durch den Kopf. Genau denselben Satz hatte der Narr in seinem Traum gesagt. "Ich sehe ein Bild vor meinem inneren Auge", fuhr Aischa fort, "ich sehe einen Mann, das vorgebeugte Gesicht mit den Händen bedeckt, weinend. Sein ganzer Körper wird von unerträglichem Kummer geschüttelt ..." "Hör auf", schrie er sie an. "Hör auf und laß mich in Ruhe!" "Gut", antwortete sie gelassen, "ich höre dich und respektiere deinen Willen, aber du mußt dir darüber im klaren sein, daß du niemals Frieden in dir finden wirst, wenn du deinen Gefühlen, deiner weiblichen Seite nicht die Beachtung schenkst, die ihnen gebühren. Lebe wohl, Daniel." Sie machte auf dem Absatz kehrt und war einige Atemzüge später in der Dunkelheit untergetaucht. Ein Teil seiner Persönlichkeit forderte ihn auf, sie zurückzuholen, nach ihr zu rufen, die Chance, die ihm geboten wurde nicht zu vertun. Keine Silbe kam über seine Lippen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er wahr, daß sich tief am Boden etwas im Schatten der Hausmauer bewegte. Er fuhr herum, sah jedoch nichts. Einen Moment glaubte er, daß die Dunkelheit selbst sich nach ihm ausstreckte und sogar das Licht der Sterne und des Mondes verschluckte. Ein dünner zielloser Windhauch zerrte an ihm. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust, holte, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln, seinen Mantel aus dem Haus und trat mißmutig, den Kopf voll grüblerischer, schwermütiger Gedanken, den Heimweg an.
Der Rückweg war entsetzlich gewesen. Obwohl der Mond den schmalen, vielfach gewundenen Pfad gut ausgeleuchtet hatte, war er einige Male nur mit knapper Not gefährlichen Stürzen entgangen. Die Hautabschürfungen und Prellungen, die er sich dabei zugezogen hatte, beachtete er kaum. Ein Feuer prasselte hoch auflodernd im Kamin und verbreitete heimelige Wärme. Er zog die Bettdecke bis hoch unter das Kinn und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung in die Kissen sinken. Die Tür war verriegelt und schloß Nacht und Kälte aus. Daniel verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete das Schattenspiel der tanzenden Flammen unter der Decke des Zimmers. Er dachte an Aischa. Widerwillig mußte er sich eingestehen, daß sie ihn faszinierte. Die Gegensätzlichkeit in ihrem Wesen, zumindest empfand er es so, war ihm unbegreiflich. Einerseits umgab sie eine Aura von Selbstsicherheit und Kraft, andererseits lag in ihrer Stimme eine Weichheit und - er suchte nach einem Wort - Verletzlichkeit, ja Verletzlichkeit, die er nicht damit in Einklang zu bringen vermochte. Vielleicht ist sie wirklich eine Hexe, dachte er, und spinnt ihre Fäden, um mich in ihrem Netz zu fangen. Ach was, schob er strikt alle weiteren Gedanken von sich. Aischa, Marja, Ria, er wollte nichts mehr davon wissen. Die Frauen werden dich noch um den Verstand bringen, wenn du so weitermachst. Mit einem Ruck drehte er sich auf die Seite, zog die Bettdecke über die Schulter und schloß die Augen. Einige Atemzüge später war er auch schon eingeschlafen.
Wieder stand er am Ende des Wegs der in den Wald mit den mächtigen Baumstämmen hineinführte. Doch diesmal war es anders. Er empfand die gleiche diffuse Angst wie beim ersten Mal, doch die Bewegungslosigkeit, die ihn damals befallen hatte, fehlte nun gänzlich. Ein sanfter, seidenweicher Wind streichelte seine Haut, doch ansonsten war es still. Keine nymphenhaften Gestalten, die ihn mit einem Lied bannten, oder eine verrückte Alte die ihn um den Verstand bringen wollte. Er stand einfach da und wartete, daß etwas geschehen würde, aber es rührte sich nichts außer dem Wind, der leicht an Stärke zunahm und sein Haar zerzauste. Dann, völlig unverhofft, spürte er Wellen gegen seinen Körper rollen. Ja, unsichtbare Meereswellen, die lautlos gegen seine Füße spülten und sich spiralförmig in seinem Körper aufwärtsdrehten bis hoch zu seiner Schädeldecke, sich dort zu Gedanken umformten und augenblicklich vor seinem inneren Auge widerspiegelten: "Warum bist du gekommen? Wonach trachtest du?" Erstaunt nahm er wahr, daß diese Fragen nicht einfach so gestellt wurden, sondern daß sie tatsächlich einen Sinn ergaben, daß sie die Oberfläche seines Bewußtseins durchbrachen wie ein Lichtstrahl das Dunkel und gleich bis in tiefere Schichten seines Wesens vordrangen. Von dort stieg dann auch eine Antwort auf, die ihn völlig verblüffte und bei der er sich weigerte, sie als seine anzuerkennen: "Ich bin gekommen", sagte die Stimme in ihm, "um mit meiner Seele Verbindung aufzunehmen." "Nein, nein", schrie er entsetzt auf und wich, die Arme ausgestreckt und die Handflächen abwehrend zum Wald gerichtet, "zurück, das ist Unsinn. Das war nicht ich, der das gesagt hat. Das waren die Gedanken eines fremden Dämons in mir, der mich zu unüberlegten Handlungen verführen will." Während er rückwärts ging, schoß wie ein Blitz der Gedanke durch sein Gehirn: "Was ist denn so schlimm an diesem Satz? Wovor fürchtest du dich?" Er hielt inne und dachte kurz darüber nach, konnte sich sein Entsetzen aber nicht erklären und verharrte stur darin, daß nicht wahr sein konnte, was nicht wahr sein durfte. Eine Feuerlinie flammte direkt vor seinen Füßen auf, und Worte erfüllten erneut seinen Geist: "Dies ist die Grenze", sagten sie nüchtern und emotionslos, "überlege und entscheide dich, ob du sie überschreiten willst. Wenn ja, wirst du eine neue Welt betreten, und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Noch hast du die Wahl. Entscheide dich jetzt." Dann war sein Kopf wie leergefegt, und eine Weile wußte er nicht mehr ein noch aus. Er sehnte sich nach jemandem, der ihm Hilfestellung geben konnte, obwohl er gleichzeitig ganz genau wußte, das er dies hier allein durchstehen mußte. Die Wellen rollten weiterhin in seinen Körper, stiegen in ihm hoch, zärtlich und liebevoll. Dann stand sein Entschluß fest. Eine Kraft, die innerhalb lag, gab ihm den Mut, seinen Fuß über die Grenze zu setzen. Kaum hatte er diese Handlung vollführt, da kräuselte sich schneeweißer dichter Nebel aus dem Erdboden dem Himmel entgegen, wallte in dichten Schwaden zum Dach des Waldes hinauf, verschluckte jegliche Geräusche und verbreitete eine überirdische Stille. Der Nebel bewegte sich, und die wunderschöne Frau trat daraus hervor. Sie wirkte wie eine in Marmor gehauene Statue, nur die Augen versprühten Glutfunken wie aus dem Kern der Erde selbst. Eine Intensität und Macht gingen von ihr aus, die sein Fassungsvermögen überstiegen. "Wer ...wer bist du?" hauchte er stammelnd und von Ehrfurcht ergriffen. Sie gab ihm keine Antwort auf seine Frage, sondern winkte ihm gebieterisch. "Komm und folge mir!" Der Weg schlängelte sich durch ein Gewirr hoher Blattstauden, vorbei an plätscherndem Wasser und sprühenden Fontänen, deren Tropfen im vollen Licht des Mondes auf den sich sanft wiegenden Blättern wie Diamanten glitzerten. Das wallende Gewand der Frau bauschte sich, auf und dann erklang ihre Stimme: "Wir sind da." Vor seinen Augen öffnete sich eine kreisrunde Lichtung, eingehüllt in den mystischen Schein Lunas. Sein Herz klopfte aufgeregt, und eine Ahnung dämmerte in ihm auf, die ihn innerlich zusammenzucken ließ. "Was soll ich hier?" fragte er mißtrauisch, wachsam um sich schauend. Mit angehaltenem Atem glitt sein Blick über das unheimliche Gelände. Frauen, kaum wahrnehmbar im düsteren Schatten der Bäume sahen ihn aus blitzenden Augen an. Für einen Augenblick schnürte eisiges Entsetzen seine Kehle zu in der Erwartung, daß sie gleich über ihn herfallen würden, um ihn für in der Vergangenheit begangene Taten zu bestrafen. Still und anmutig traten sie einen Schritt vor. Zu seiner Erleichterung hielt keine von ihnen eine Waffe in den Händen, und er atmete befreit auf. "Zieh dich aus", befahl die Frau. Zorn und Entrüstung erfaßten ihn bei diesen Worten. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er machte sich bereit zur Gegenwehr, wollte ihr beleidigende demütigende Gedanken entgegenschleudern, um ihr zu zeigen, daß sie mit ihm nicht wie mit einem Schoßhund umspringen konnte. Er sah zu ihr hin und schluckte seine Empörung mit der Automatik eines Roboters hinunter. Sein Körper spannte sich wie ein Bogen. Hilflos und ohnmächtig mußte er sich eingestehen, daß er ihrer Kraft und Macht nichts entgegenzusetzen hatte. Daß sie ihn wie ein Stock zwischen den Fingern zerbrechen konnte, falls er sie angriffe. Mit gesenktem Kopf, gefangen in einem inneren Widerstreit, fügte er sich. Mit einer kaum wahrnehmbaren, zarten Berührung ihrer Fingerspitzen geleitete ihn die Frau, nachdem er sich entkleidet hatte, zum Mittelpunkt der Lichtung. Der Narr schritt aus der Dunkelheit auf ihn zu, wies mit dem Finger auf ihn und lachte schallend. Peinliche Röte und Wut schossen in sein Gesicht. Gekränkt bedeckte er seine Blöße mit den Händen und schaute verlegen um sich. Als er sich wieder dem Narren zuwandte, stand an dessen Stelle der kristallene Spiegel mit dem silbernen Rahmen. Er schaffte es nicht hineinzusehen. Die Frauen traten nun aus dem Schatten heraus, verschränkten ihre Arme und begannen zu summen. Leise zuerst, sich immer mehr steigernd, bis sie ringsherum ein Kraftfeld erzeugt hatten, das auch er wahrnahm und das ihn stark beunruhigte. Die Augen der Frau neben ihm leuchteten auf, und sie rief:" Erwache! Erwache! ôffne dein Herz!" Eine Wolke schob sich vor das Mondlicht, und für eine kurze Zeitspanne war es so finster, daß man die eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte. Sein Brustkorb wurde von einem unsichtbaren Ring zusammengedrückt, und er spürte ein unbeschreibliches Grausen, fand keinen äußeren Halt in der Schwärze um ihn her, keinen Zweig oder Ast, keine helfende Hand. Ein Gefühlswirrwarr aus Angst und Faszination, Ergriffenheit und Wut, Freude und Beklemmung wechselte so rasch in ihm, daß er glaubte, dem nicht mehr standhalten zu können. Wieder begann die Frau zu sprechen, und während er ihr lauschte, klammerte sich sein Innerstes an ihren Worten fest wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring: "Nimm all deinen Mut und sieh hinein, Daniel." Nur zögernd hob er den Kopf und sah sich seinem spiegelverkehrten Ebenbild gegenüber. Eine Weile irritierte ihn seine körperliche Nacktheit, die aber schließlich mehr und mehr in den Hintergrund trat, während seine Aufmerksamkeit sich seinen Gesichtszügen zuwandte. Zwei strenge tiefeingegrabene Falten zogen sich von seiner Nasenwurzel die Stirn hinauf, und in seinen Augen fehlte das Leuchten von innen kommender Lebendigkeit, wie er es von den Kindern kannte. Seine Wangen hatten etwas Hageres, und um sein Kinn hatte sich im Lauf der Jahre ein Zug von Härte und Starrheit verfestigt. Er fühlte sich unwohl, denn ihm gefiel nicht, was er sah, es gefiel ihm ganz und gar nicht. Plötzlich tauchte ein zweites Gesicht hinter dem ersten auf, so als sei dieses nur eine Fassade, eine Maske gewesen. Das Wort "Schutzschild" ging ihm durch den Kopf. Neugierig betrachtete er das zweite Gesicht, dessen anfängliche Substanzlosigkeit sich zu einer klaren, scharfumrissenen Form verdichtete, die ihn erschreckte. Verletzlichkeit, Mitgefühl und Hilflosigkeit blickten ihm daraus entgegen; eine Verletzlichkeit, die ihm sein Herz entzweizureißen schien und der er sich in dieser Direktheit nicht gewachsen fühlte. Angstvoll schlug er die Hände vor das Gesicht und strauchelte verstörrt einige Schritte zurück. Daniel spürte einen warmen kitzelnden Hauch an seinem Ohr, und die Frau flüsterte: "Alle Handlungen der Liebe und Lust kommen aus dir. Laß darum Schönheit und Stärke, Kraft und Mitgefühl, Freude und Ehrfurcht in dir wohnen." Während er die gerade gehörten Worte in sich nachklingen ließ, schien es, als bewegten sie sich wie ein Licht in die Unendlichkeit seiner Seele hinein. Er erkannte, wie offen und angreifbar er sich damit machte, und verschloß sein Innerstes augenblicklich hinter einer harten undurchdringlichen Wand aus Mißtrauen und Unbeugsamkeit - und doch, irgendwo in seiner inneren Welt hatte er den Geschmack von Liebe, Freiheit und Ernsthaftigkeit gekostet, ein Geschmack, der einfach zu köstlich war, um wieder ganz in den Mantel des Vergessens gehüllt werden zu können. Musik erklang, und das rhythmische ekstatische Spiel zog ihn schnell in Bann. Zuerst erwachte eine sanfte Erregung in ihm, die nach und nach eine glühende Leidenschaft entfachte, die er jedoch verzweifelt bekämpfte, um nicht von dieser wilden Kraft überrollt zu werden. Die Musik verstummte. Er nahm seine Hände von den Augen und sah sich um. Er war allein. Sein Körper glänzte schweißüberströmt im Mondenschein, schaukelte wie Schilfrohr im Wind, vibrierte noch unter den längst verklungenen Melodien, sank langsam und erschöpft auf die Erde nieder. Eine Stimme, die nicht der Frau gehörte und die niemals zuvor mit ihm gesprochen hatte, sagte freundlich: "War das nicht wunderbar? Es war so berauschend, daß du alles um dich herum vergessen hast. Alles, was du möchtest, wird zu dir kommen, wenn du ganz und gar dazu bereit bist, es zu empfangen!" Daniel nickte leicht mit dem Kopf, so als wolle er die Worte damit bestätigen und bekräftigen. Und doch vermischten sich zwei widerstreitende Gefühle: Einmal waren da der unbeschreibliche Zauber und die Sinnlichkeit, die er erlebt hatte, eine Offenheit im Umgang mit sich selbst, die ihn verwirrte und gleichzeitig anzog. Auf der anderen Seite stand sein moralisches Gewissen, sein anerzogenes Schamgefühl, das diese Ausschweifungen verwerflich fand und einen Ekelreiz in ihm erzeugte. Eine Weile hielten sich diese gegensätzlichen Standpunkte die Waage, dann schlug das Pendel immer stärker in Richtung Intoleranz, gewöhnliches Denken und Arroganz um. Angewidert wandte er sich ab und schrak zusammen, als er der häßlichen Alten ins Gesicht sah, das keine Handbreit von seinem entfernt war. "Hi, hi, hi", kicherte sie und glich mehr denn je einer hinterhältigen furchterregenden Hexe. "Wie ich sehe", fuhr sie fort, " bist du in deinem Vorurteils - und Männlichkeitswahn schon wieder dabei, dich in gewohnten Bahnen zu bewegen. Sei doch nicht so verflucht stur", schnarrte sie mit hoher Fistelstimme und tippte ihm mehrmals mit einem Stock gegen die Spitze seines Brustbeins. "Und hol endlich Luft, sonst verreckst du noch wie ein hirnverbrannter Idiot." Als habe sich eine Lähmung in seiner Brust plötzlich aufgelöst, schnappte er keuchend nach Luft und sprang hastig ein Stück von ihr fort. Ihre gebogene Hakennase erschien ihm wie der spitze Schnabel eines Raubvogels, und der bohrende Blick ihrer scharfen schwarzen Augen ängstigte ihn. Daniel sah beschämt zu Boden, aber auch wütend darüber, daß er sich wiederholt benahm wie ein Kleinkind und ihm auch nichts einfiel, wie er die ganze Angelegenheit vorteilhafter für sich gestalten konnte. "Sieh mich an", sagte sie und zwinkerte ihm belustigt zu,"ich werde jetzt über das Weibliche sprechen, und dafür brauche ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nach einer Minute des Schweigens begann sie
Der Geist des Tales stirbt nie. Er heißt, das geheimnisvoll Weibliche. Die Pforte des Geheimnisvoll - Weiblichen ist die Wurzel von Himmel und Erde. Schöpfe daraus, und es dient dir mit Leichtigkeit.
"Nun", fragte sie ihn nach einer Weile herausfordernd, "was hältst du davon?" "Ich weiß nicht", murmelte er schwach, nicht denken könnend," das ist mir viel zu abstrakt. Ich habe das Gefühl das mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird, daß etwas mir Unbekanntes, Bedrohliches auf mich niederprasselt wie eine Sturzflut. Ich weiß nichts mehr", brach er niedergeschlagen ab, erhob sich müde, setzte sich auf einen halbhohen Stein und legte den Kopf in die Hände. Mit einer Sanftheit, die er der Alten nicht zugetraut hatte, strich sie ihm übers Haar. Ihre Stimme klang weich und mitfühlend, als sie sagte: "Ich verstehe dich, das kannst du mir glauben. Unvermittelt der Wahrheit zu begegnen ist sehr schmerzhaft. Doch ich liebe die Wahrheit über alles, sie ist die Kraft, aus der wir zu leben lernen mussen. Dornen, scharfkantiges Gestein und allerlei Geröll findet man auf dem Weg zu ihr, und das alles muß fortgeräumt werden, damit sie ungehindert fließen kann." Er fühlte ihre Hand an seinen Haaren abwärts gleiten bis in den Nacken, spürte Hitzewellen in diesem Körperbereich und frische Energie dort hineinströmen. Stille breitete sich aus. Das Geheimnisvoll-Weibliche, dachte er, und Sehnsucht entfaltete sich in seinem Herzen, begann zu brennen wie die Glut eines Feuers. Er stand auf und ging fort, ohne sich noch einmal nach der Alten umzusehen. Der gleiche Pfad, auf dem er hierhergekommen war, öffnete sich vor ihm. Während er lief, stiegen bläulichweiße Nebelschwaden aus dem Boden. Seine Sehnsucht katapultierte aus ihm heraus wie ein abgeschossener Pfeil, unaufhaltsam auf seinem Weg ins Ziel. "Aischa", hauchte er schmerzlich begehrend und begann zu laufen. Sein Herz schlug im Gleichklang mit ihrem Namen: Aischa, Aischa ... Er rannte und rannte ... bis er schluchzend und in sein Kissen verkrallt aufwachte, von kaltem Schweiß durchnäßt und mit vor Erschöpfung tauben Gliedern. Erst allmählich nahm er die Umrisse der vertrauten Gegenstände in der Hütte wahr, die sich im eindringenden Licht der Morgendämmerung seinen erstaunten Augen in einer Fremdheit boten, als gehörten sie nicht in diese Welt. Er zwang sich, seinen keuchenden Atem zu beruhigen, zwang seinen Geist, Gedanken zu fassen; seine Beine taten weh, die Füße fühlten sich eiskalt an unter der Bettdecke. Verunsichert klammerte er sich an den letzten Strohhalm der Vernunft, indem er dachte: Es war nur ein Traum. Doch so sehr er sich auch bemühte, es blieben ein Stachel der Ungewißheit und das ungestillte Bedürfnis nach einem Menschen, mit dem er sprechen konnte, bei dem er das Gefühl hatte, verstanden zu werden. Aischa. Kaum stellte er sich ihr Gesicht vor, wurde alle Vernunft hinweggefegt. Er mußte mit ihr reden. Jemand klopfte an die Tür. Es war noch sehr früh, darum glaubte er zuerst sich verhört zu haben, doch das Klopfen wiederholte sich. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Wer konnte das sein? Sein unhöfliches Verhalten vom Abend zuvor fiel ihm ein, wie er sich wortlos vom Fest entfernt hatte. Dann war er überzeugt, daß nur Marja oder Sven vor der Tür stehen konnten die sich nach seinem Befinden erkundigen wollten. "Einen Augenblick bitte", rief er, kletterte aus dem Bett, stieg hektisch in seine Hosen, schob sich provisorisch mit den Händen die Haarsträhnen zurück und öffnete die Tür. Aischa stand vor ihm. Ein kurzer Schreck zuckte durch sein Gesicht. "Störe ich?" fragte sie. "Nein, äh, entschuldige bitte, natürlich nicht. Komm rein." Angespannt wies er auf einen der beiden Stühle und fragte sich, was sie von ihm wollte. Er schloß die Tür. "Möchtest du einen Kaffee?" "Nein. Danke. Aber ein Glas Wasser gern." Daniel ging in die Küche, froh darüber,so eine räumliche Trennung zwischen sie kommen zu lassen. Er hielt sich bewußt länger als nötig mit der Zubereitung des Frühstücks auf, um Zeit zu haben, sich zu fassen. Er deckte den Tisch, trat ans Fenster und blickte auf die sonnenbeschienene Landschaft. Endlich schien sich auch im hohen Norden der Sommer durchzusetzen. Ein leichter Schauer lief durch ihn, und ein spontaner Impuls drängte ihn, die Arme auszustrecken und Aischa an sich zu ziehen. Doch kaum, daß er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, verkrampfte er sich. Verdammt, was wollte sie ausgerechnet jetzt von ihm. Einen schlechteren Zeitpunkt hatte sie gar nicht wählen können. Sie sah zu ihm hinauf, das Wasserglas zwischen den Händen. "Sieh mich an, Daniel." Er hob die Augenlider, unfähig, sich zu widersetzen. Ihre Blicke trafen sich, und während eines langen Augenblicks hatte er das Gefühl, jeder Gedanke seines bisherigen Lebens werde von dieser Frau umgewendet und gelesen, es werde mit diesem einen Blick, der nicht einmal lange dauerte, sein Innerstes nach außen gekehrt und in der Luft hängengelassen. Es waren in Wirklichkeit nur Sekunden, doch ihm schien es eine Ewigkeit gewesen zu sein, als sich ihre Augen voneinander lösten. Was hatte diese Frau mit ihm vor? Er war plötzlich hellwach und mißtrauisch bis in die Haarspitzen. Er setzte sich, goß sich von dem dampfenden heißen Kaffee ein und nippte vorsichtig schlürfend an der Tasse. "Ist alles in Ordnung mit dir?" Aischa betrachtete ihn geduldig. "Was meinst du?" fragte er, ohne sie anzusehen. "Ich habe von dir geträumt. Ein sehr interessanter Traum." Sie drehte schweigend das Glas zwischen den Fingern. "Ein Narr kam darin vor, eine außergewöhnlich schöne Frau sowie du und ich." Daniel wartete darauf, daß sie weiterredete, doch sie sagte nichts mehr. "Sprich weiter", forderte er sie auf. "Ich?" lächelte sie ihm verwundert zu. "Ich glaube, du bist derjenige, der mir etwas erzählen sollte." Es wurde ein langer Vormittag. Nach anfänglichem Zögern begann er ihr die Träume seiner jüngsten Vergangenheit zu schildern, froh und dankbar darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, der gewillt war, sich seine Probleme anzuhören. Noch während des Redens spürte er eine große Last von seinen Schultern fallen. Die Zeit verging dabei wie im Flug, und ehe er sich versah, war auch schon Mittag. Aischa schwieg lange Zeit, als er die Lebensgeschichte seiner letzten Jahre beendet hatte. "Leben bedeutet lernen", brach sie nachdenklich die Stille, "und deine Träume sind ein klarer Hinweis darauf. Ich meine, wer sterblich ist, muß an die Endlichkeit seines Lebens denken und seine kurzen Jahre dem Bemühen um die Erweiterung des eigenen Wissens und der Erkenntnis widmen." "Kann sein, ja. Was denkst du, was ich jetzt tun soll?" Aischa erhob sich und ging zum Fenster. Sie öffnete es und nahm mehrere tiefe Atemzüge der frischen Luft, die in den Raum hineinströmte. Daniel betrachtete sie. Ihre schwarzen Locken fielen bis über die Schultern, hin und wieder von einer sanften Brise bewegt. Ihre Kleidung bestand aus Pullover, einem wollenen Rock der bis zu den Waden hinabfiel, und ledernen Stiefeln. Ein schweres Tuch, das sie um den Hals getragen hatte, hing über der Stuhllehne, in der Farbe Schwarz wie alle anderen Kleidungsstücke auch. Er atmete innerlich auf, für einige Minuten von ihrem forschenden, eindringlichen Blick befreit zu sein. Er liebte den Glanz, das Leuchten in ihren Augen, doch ebenso fürchtete er sich davor. Es überkam ihn jedesmal ein Gefühl von seelischer Nacktheit und Ausgeliefertsein wenn sie ihn ansah. Aischas Stimme stoppte den Fluß seiner Gedanken. Mit vor der Brust verschränkten Armen sagte sie: "Ich werde morgen in aller Frühe aufbrechen, um einen Freund zu besuchen, der hoch im Norden wohnt. Wenn du willst, kannst du mich begleiten." Als sie das Wort Freund aussprach, spürte er einen kurzen stechenden Schmerz. Mach dich nicht lächerlich, dachte er ärgerlich, es gibt überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Aischa drehte sich um. Sofort stand Daniel auf und räumte den Tisch ab, entzog sich ihrem Blick, wollte nicht, daß sie seine Gefühle erkannte. Als er sich gefangen hatte und zurückkehrte, antwortete er: "Das ist ein sehr freundliches unwiderstehliches Angebot von dir. Ich nehme es gern an. Da ist nur ein Problem." "Welches?" "Wie lange wird die Reise dauern?" "Es ist ein sieben- bis achttägiger Fußmarsch für eine Strecke." "Das geht in Ordnung. Ich komme mit." "Schön, das wäre damit geklärt. Ich werde mich gleich auf den Heimweg machen und die letzten Vorbereitungen treffen. Morgen bei Sonnenaufgang bin ich hier." Sie nahm das Tuch von der Stuhllehne und ging zur Tür, trat in den Sonnenschein hinaus und wandte sich ihm noch einmal zu: "Aber denke nicht, Daniel, daß ich dir dieses Angebot nur wegen deiner seelischen Schwierigkeiten gemacht habe. So ist es nicht. Ich habe dabei ganz eigene handfeste Interessen. Ich hab` nämlich keine Lust, allein zu gehen." Sie schloß die Tür und war fort. Einige Herzschläge lang stand er nur da, leicht verwirrt, weil er nicht verstand, warum sie betont hatte, daß es ihr nicht darum ging, ihm zu helfen. Dann eilte er hinaus, wollte sie fragen, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er rannte zum Pfad, der ins Dorf hinunterführte. Ein aufgeschrecktes Eichhörnchen sprang quiekend am Stamm einer Kiefer hoch, sonst war nichts zu hören und zu sehen. Mit einem Schulterzucken gab er auf, weiter nach ihr zu suchen. Statt dessen spazierte er in Richtung des Baches, der sich ungefähr fünfzig Schritte von der Hütte entfernt durch die Landschaft schlängelte. Er ließ sich an seinem Ufer auf zwei Felsblöcken nieder, die nahe beieinander lagen und einen natürlichen Sitz bildeten, fast einen Meter breit und ebenso hoch. Keine Wolke zeigte sich am Himmel. Ein frisches funkelndes Blau spannte sich wie Email über ihm, um entlang des Horizonts in die bräunlichen und grünen Töne zerklüfteter baumbestandener Gebirgsformationen überzugehen. Daniel ließ sich langsam zurückgleiten, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und gab sich der Betrachtung des Himmels hin. Bisweilen schien es, als sei er aus Hunderten von Farben zusammengestrichelt, die einander kreuzten und zusammen dieses strahlende Blau ergaben. Dennoch war es nicht wie ein Gemälde. Es war, sah man genauer hin, sehr lebendig, leicht beunruhigend in der Art und Weise, wie es in Bewegung schien. Daniel hatte das Empfinden, die Himmelskuppel senke sich abw